Über 30 Prozent der Ärzte im ländlichen Raum Schleswig-Holsteins sind über 60 Jahre alt. Es ist also absehbar, dass sie sich früher oder später zur Ruhe setzen werden. Viele Praxen sind schon heute nicht mehr besetzt. Was muss passieren, um diesem Trend entgegenzuwirken?
Am Mittwoch, 27. November 2019, hatten die Akademie für die Ländlichen Räume Schleswig-Holsteins e.V. (ALR) und die Agrarsoziale Gesellschaft e.V. (ASG) in Bordesholm zum Seminar „Die ärztliche Versorgung auf dem Lande sichern – was ist zu tun?“ eingeladen. Ziel war es, Wissenschaft, Politik und Praxisbeispiele mit interessierten Akteuren aus dem ländlichen Raum zusammenzubringen.
Andre Zwaka von der Kassenärztlichen Vereinigung in SH (KVSH) machte deutlich, dass in Schleswig-Holstein laut rechnerischer Bedarfsplanung keine Region an einer ärztlichen Unterversorgung leide. „Allerdings beinhalten die Bedarfsbereiche, in die Schleswig-Holstein bereits vor 30 Jahren eingeteilt wurde, in ihren Berechnungen weder die tatsächliche Arbeitsbelastung der Ärzte noch die Verhandlungen über Preis und Übernahmebedingungen für Praxen, die zur Übergabe stehen. Auch die Anzahl der Praxen, die schon lange nach einem Nachfolger suchen, aber keinen finden, wird nicht berücksichtig“, so Zwaka.
Weiter betonte er, dass Schleswig-Holstein im Bereich der individuellen Lösungen eine Vorreiterrolle einnehme. Hierbei ging er insbesondere auf Hausarztpraxen, die in kommunaler Trägerschaft geführt werden, ein. So gebe es kommunale Eigeneinrichtungen, in denen mehrere Ärzte von einer Kommune angestellt werden, deutschlandweit nur in Schleswig-Holstein. Diese liegen in Büsum, Silberstedt und Hürup.
Dass das vorwiegende Problem kein Ärzte-, sondern ein Arbeitszeitmangel sei, erklärte Thomas Rampolt aus dem Ärztezentrum Büsum. „Die Herausforderungen für die Arztpraxen liegen oft in den veränderten Vorstellungen der jüngeren Generation bezüglich des Verhältnisses zwischen Arbeit und Freizeit sowie im demografischen Wandel und der daraus resultierenden erschwerten Suche nach Nachfolgern“, sagte er. Medizinische Versorgungszentren (MVZ) könnten dieses Problem lösen. So konnten in Büsum mehrere Arztpraxen in einem Gebäude zusammengelegt werden, wodurch weniger Raum für Wartezimmer, Serverräume, etc. benötigt werde. Auch eine Apotheke fand in dem Komplex einen neuen Standort. Darüber hinaus sei es durch die kommunale Trägerschaft möglich, Teilzeit- und Angestelltenwünsche der Ärzte zu berücksichtigen. Ausfälle werden aufgefangen und eine enge Zusammenarbeit zwischen den Ärzten untereinander sowie mit den Angestellten gefördert.
Grundlage für den Erfolg solcher Konzepte sei eine gute Kommunikation zwischen Gemeinde und Ärzten. Aufgaben wie Unternehmensleitung, Personal und Koordination müssten dann nicht mehr wie bisher die Ärzte übernehmen, sondern fielen dem Träger des MVZ zu.
Wie in vielen Gemeinden ist der Ärztemangel auch in Bad Bramstedt und Hürup angekommen. „Die gefühlte Wirklichkeit stimmt oft nicht mit den Zahlen der KVSH überein“, betonte Hans-Jürgen Kütbach, ehemaliger Bürgermeister aus Bad Bramstedt. Auch für ihn lautet das „Zauberwort“ MVZ. So hat er noch zu Amtszeiten eine von der AktivRegion Holsteiner Auenland geförderte Machbarkeitsstudie für ein MVZ in Bad Bramstedt in Auftrag gegeben. Heute gibt es unter dem Dach des MVZ der Stadt Praxen für Radiologie, Orthopädie und Unfallchirurgie sowie für Orthopädie und Kinderorthopädie.
Trotz aller Vorzüge eines MVZ gab Burkhard Gerling, ehemaliger Bürgermeister der Gemeinde Husby, zu bedenken, dass Gemeinden ihren Bedarf zunächst genau analysieren müssen. Außerdem spiele die Kommunikation eine wichtige Rolle, damit ein Medizinisches Versorgungszentrum funktionieren könne.
Bettina Neke aus dem Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren ermunterte alle Gemeinden, sich auf Fördergelder aus dem „Versorgungssicherheitsfonds“ zu bewerben. Bis zu 500.000 Euro können Initiatoren einwerben. „Es bewegt sich eine ganze Menge, es gibt viel Geld. Wir wollen dazu anregen, neue Ideen zu entwickeln und es ermöglichen, diese auszuprobieren.“ So habe das Ministerium in Schleswig-Holstein bereits viele Projekte im Bereich der mobilen, technischen und digitalen Lösungen gefördert.
Als weiterer Referent war Prof. Dr. med. Jost Steinhäuser von der Universität Lübeck eingeladen. Eines seiner Fachgebiete ist die Telemedizin. Ein großes Potenzial sieht er in sogenannten TeleArzt-Rucksäcken, mit denen medizinische Assistenten Patienten zu Hause besuchen und über Video sowie digitale Messungen den Arzt direkt über deren Befinden informieren können. Diese Möglichkeit erspare dem Arzt und den Patienten unnötige Wege und Zeit. An vielen Orten in Schleswig-Holstein werde diese neue Möglichkeit schon getestet, wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Das große Problem des Ärztemangels sieht Steinhäuser schon in der Ausbildung neuer Ärzte. „90 Prozent aller Studierenden werden Fachärzte. Das Problem ist nicht der Ärztemangel, sondern das Thema der Verteilung“, erklärte er. So bräuchten Hausärzte ein viel breiteres Wissensspektrum als Spezialisten. „Wenn nicht von Beginn an breit qualifiziert wird, ist die Wahrscheinlichkeit, sich ländlich niederzulassen, gering“, so der Mediziner.
Er selbst leitet einen Kurs, bei dem Studierende Praxen im ländlichen Raum für ein Jahr begleiten. Das Auto für die Fahrten stellt die Universität. „Viele Studenten sagen im Nachgang, dass die Orte nicht mit ihren Vorstellungen vom ländlichen Raum übereinstimmen und sie mit viel weniger Infrastruktur gerechnet haben“, so Steinhäuser. Durch dieses und viele weitere Projekte will er ein neues Image vom ländlichen Raum schaffen. Darüber hinaus betonte er, dass es auch finanziell Vorteile habe, Hausarzt auf dem Lande zu werden. Dort verdienten Ärzte bis zu 30 Prozent mehr als in den Städten.
Abschließend diskutierten alle Referenten gemeinsam mit den Interessierten und warfen einen Blick in die Zukunft der ärztlichen Versorgung. Dabei kamen insbesondere eine enge Verzahnung aller Bereiche der Medizin, eine intensive Kommunikation zwischen ambulanter, stationärer, rehabilitierender und pflegender Behandlung sowie die Themen Telemedizin und digitale Patientenakten zur Sprache. Letztere sahen die Experten als eine Selbstverständlichkeit in der Praxis von 2030. Konkret an die Politik richteten sich die Referenten mit einer weiteren Problematik: So müssen Ärzte ihren geplanten Ruhestand erst ein Quartal vorab bekanntgeben. Dies erschwere die Planung deutlich. Hermann-Josef Thoben, Vorsitzender der ALR SH e.V., betonte abschließend: „Generell darf nicht davon ausgegangen werden, dass alles so bleiben muss wie es ist und war. Vielmehr gibt es ausreichend neue Möglichkeiten, die eine ärztliche Versorgung auf dem Lande sicherstellen können.“